Der Adler - Für Shayan, für ein Leben in Freiheit und Freude
Der eindringliche Ruf des Adlers durchbrach die Stille im weiten Tal. Mit ausgebreiteten Schwingen kreiste er über dem glasklaren Wasser des Gebirgsbaches. Der Bergwind hob ein wenig sein Federkleid und ließ eine Flaumfeder zu Boden schweben. Sie blieb in der flachen Vertiefung eines großen Steines am Rande des Baches liegen. Den sanften Lufthauch spürend blickte Shayan von seinem Wasserspiel auf. Entzückt sah er die weiche Adlersfeder, nahm sie behutsam auf und steckte sie in seine Umhängetasche aus Ziegenleder zu den anderen Schätzen. Dann ging sein Blick nach oben. Er wusste genau zu welchem Tier diese Feder gehörte.
Der Adler hob und senkte seine großen Schwingen, er hatte anscheinend keine Absicht auf Jagd zu gehen. Hoch flog er in den Lüften, stürzte sich dann ganz schnell nach unten, um sich dann wieder nach oben zu schrauben, den Jungen immer im Auge behaltend.
„Danke für deine Feder!“, rief Shayan dem Adler zu. So als hätte das Tier den Dank gehört, ließ er sich bis auf vier Meter oberhalb des Jungen aus der Höhe fallen, um dann sofort wieder in die Höhe aufzusteigen. Shayan entzückte dieses Auf und Ab des Adlers. Er erhob sich von seinem Stein im Bach und streckte die Arme dem Tier entgegen und versuchte ihn zu sich zu locken. Er ahmte die Laute eines Adlers nach, die er sehr gut kannte. Kam er doch jeden Tag nach der Schule hierher und beobachtete die Tiere, die ihm begegneten. Shayan ist ein guter Beobachter und Auswerter des Gesehenen. Bücher seines Vaters und seines Lehrers sättigten seinen Wissensdurst – jetzt noch!
Shayan setzte noch einmal an, den großen Steinadler zu sich zu ziehen. Ein Rauschen war in der Luft zu hören. Der Schrei des riesigen Vogels hallte durch das ganze Tal hin. Der Junge lächelte und antwortete. Da flog das riesige Tier in enger werdenden Kreisen herab, ließ sich auf einer Zeder, nahe dem Jungen nieder. Er breitete noch einmal seine breiten Schwingen aus, um einen guten Platz auf dem starken Ast einzunehmen, schüttelte sich und hob den Kopf. Der Junge näherte sich vorsichtig dem Baum, langsam, sehr langsam, Schritt für Schritt, immer die Augen des Vogels fixierend. Dann blieb er stehen, hielt jedoch einen respektvollen Abstand.
Der Vogel rührte sich keinen Augenblick, wie erstarrt schaute er auf Shayan hinab. Eine halbe Minute vielleicht wartete der Vogel in seiner Unbeweglichkeit, um plötzlich seine Schwingen wieder zu erheben und über den Jungen zu streichen. Shayan spürte die Federn, zuckte aber in keinem Moment. Der Adler flog einige Meter voraus, Richtung Gebirge, wendete trotz seiner Größe geschickt und umkreiste den Jungen wiederum. Dann zog er Richtung Berge, kam jedoch wieder zurück. Shayan verstand und setzte sich in Bewegung. Der Adler ließ einen lauten Schrei los. Immer auf den Jungen achtend, dass er ihm auch folgte, glitt er den Bergen näher.
Eine halbe Stunde lang ging nun Shayan schon im unwegsamen Gelände mit spärlichem Pflanzenbewuchs, manchmal auf dem Geröll dahinstolpernd, als ein Schrei ertönte. Shayan horchte auf. Es war nicht der Ruf des Adlers, der ihn führte. Es musste einen zweiten Adler geben. Neugierig blickte Shayan in die Höhe, konnte jedoch den Vogel nicht entdecken. Wieder dieser Schrei! Er kam nicht aus der Höhe, er musste irgendwo nahe dem riesigen Stein, der vor Shayan auftauchte, sein. Der Junge versuchte einen Weg zu finden, um dorthin zu gelangen, wo er den zweiten Vogel vermutete. Mit Geschick kletterte er die steile Felswand hoch. Der erste Adler, sein Begleiter, umkreiste ihn. Trotz Achtsamkeit und Gewandtheit verlor er, fast oben angekommen, den Halt, konnte sich jedoch an einem Felsbrocken noch anklammern und sich mit letzter Kraft auf die oberste Ebene ziehen. Shayan rollte sich auf den Rücken, verschnaufte kurz und sah dabei nach oben. Einige Meter über ihm schwebte sein Weggefährte. Dieser ließ sich diesmal sacht fallen und platzierte sich neben den Jungen, rückte dann doch ein wenig abseits. Shayan setzte sich auf und sah den Adler an. Riesig war er, über einen halben Meter hoch. Der Vogel hüpfte etwas behäbig ein wenig weg, hob die Flügel, senkte sie wieder und hüpfte wieder vor. Shayan verstand. Er folgte ihm.
Dann sah er den zweiten Vogel. Ein Jungtier saß auf dem blanken Felsen, schrie als Shayan näherkam und versuchte nach rückwärts zu hüpfen, was ihm jedoch misslang. Er breitete seine Flügel aus, wobei der Junge entdeckte, dass eine Schwinge gebrochen war. Shayan überlegte, was er mit diesem verletzten Tier anfangen sollte. Der Vogel war scheu, er hatte Angst vor dem Jungen. Sein Schnabel war offen, seine Augen starr auf Shayan gerichtet. Der Junge sah, dass das Herz des Vogels heftig schlug und er traute sich nicht ihm noch näher zu kommen, geschweige den Vogel aufzunehmen.
Da ertönte erneut der Schrei des ersten Adlers. Shayan spürte seinen Flügelschlag wie er neben dem Jungtier landete. Der große Adler strich mit seiner starken Waffe, seinem Schnabel über die Rückenfedern des jungen Vogels. Dann wandte er seinen Blick Shayan zu.
Ich denke, dass es nicht übertrieben ist, wenn ich schreibe, dass Tiere sehr wohl mit Menschen kommunizieren können. Besonders die Augen sind es, die Kontakt aufnehmen und in denen wir ihre Gefühle, ihren Schmerz und ihre Freude lesen können.
Im Blick des Adlers lag eine Klage und eine große Bitte. Shayan wusste genau, was der Adler von ihm wollte. Er sah es in seinem Gesichtsausdruck. Darauf vertrauend umwickelte Shayan seinen linken Arm mit einem Tuch, das er immer in seiner Tasche mit sich trug, kniete sich auf den felsigen Boden und rückte so an das Jungtier heran. Der junge Adler war noch immer sehr aufgeregt und ängstlich. Doch er ließ den Jungen zu sich ohne ihn mit seinem scharfen Schnabel zu hacken. Vorsichtig legte Shayan seine linke Hand vor die Krallen des Vogels. Langsam, ganz langsam versuchte der Junge seine Hand unter die Krallen zu schieben. Der Vogel ließ es geschehen, hob eine Kralle nach der anderen bis sich Shayans Handrücken ganz unter seinen Füßen befand. Der Junge redete ihm die ganze Zeit gut zu. Shayan hatte eine ruhige, sehr klare Stimme. Sie dürfte den Adler beruhigt haben, denn der Atem des Vogels war viel flacher geworden. Shayan stützte sich mit der anderen Hand auf einen Stein neben sich und versuchte ohne eine ruckartige Bewegung zu machen aus der Knieposition hoch zu kommen. Es gelang ihm.
Da erhob sich auch der große Adler wieder in die Lüfte und wies Shayan mit eindringlichem Ruf an, einen anderen Rückweg einzuschlagen als der Junge vorgehabt hätte. Dieser Pfad erwies sich weniger anstrengend als der Hinweg. Der junge Adler musste manches Mal die ruppigen Handbewegungen, die durch das Gehen durch Gestrüpp und über spitze Steine verursacht wurden, mit seinen Flügeln ausgleichen, das ihm anscheinend Schmerzen bereitete. Er ließ einen kläglichen Schrei los. Shayan konnte jedoch den Verletzten immer wieder mit seiner Stimme beruhigen. Trotz weniger steilem Weg war der Abstieg mühsam. Der Junge musste seinen linken Arm durch seinen rechten unterstützen, da der Vogel, der sicher zweieinhalb Kilo wog, mit der Zeit schwer wurde und der Arm steif. Manchmal blieb er stehen, setzte sich kurz auf einen Stein, um die Hand mit dem Vogel darauf etwas zu entlasten. Dann bewunderte Shayan die schönen dunkelbraunen Federn, den grauen starken Schnabel und die goldgelben Nackenfedern des Adlers.
Der Vogel hatte inzwischen Zutrauen zu seinem Retter gefunden, sein Atem ging regelmäßig. Der Begleiter in der Luft wich den Beiden nicht von der Seite.
Endlich nach einer gut geschätzten Stunde waren sie im Tal angekommen. Der Weg wurde breiter und führte zum Fluss, wo Shayan dem Vogel aus seiner linken Hand zu trinken gab. Gierig, aber doch vorsichtig schluckte der Vogel das frische Wasser. Der Junge stärkte sich ebenfalls. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sich sein Blick mit dem des jungen Adlers traf. Aufmunternd sprach er zu seinem neuen Freund, der ihm mit einem leisen Ton antwortete.
Und weiter ging es, dem Fluss abwärts folgend, bis die ersten Höfe des Dorfes zu sehen waren. Die Getreidefelder waren bereits abgeerntet. So überquerte Shayan die Stoppelfelder und war bald an seinem Elternhaus angelangt. Von weitem rief er nach seinem Vater, der aus seiner Werkstatt trat, ein Schweißgerät in seiner Hand haltend. Erstaunt sah er auf seien Jungen, auf den jungen Adler und hob dann seinen Kopf nach oben. Der große Adler hatte seine Stimme erhoben und ließ sich auf die geöffnete Werkstatttür nieder. Eshan erkannte den Vogel sofort wieder. Es war Kira, das Adlerweibchen, das er vor fünfzehn Jahren aus einer Jagdschlinge befreit hatte. Er legte das Schweißgerät wieder ab und begann mit dem großen Vogel zu reden. Kira legte den Kopf mal nach rechts, mal nach links und hörte ihm aufmerksam zu.
Shayan unterbrach die lustige Szene und drängte seinen Vater nach dem verletzten Tier zu sehen. Eshan näherte sich dem Jungtier sehr langsam. Kira ließ einen zarten Ruf hören. Shayan streckte seinen Arm seinem Vater entgegen. Eshan besah sich die Verletzung des Flügels genau und holte im Haus Verbandsmaterial. Shayan setze den Vogel auf eine dicke Stange, wo er sich festhalten konnte und Eshan gut an den verletzten Flügel rankam. Geschickt wie ein Tierarzt legte der Vater den Verband an und wies Shayan an, den jungen Adler in die Voliere zu bringen. Das Jungtier ließ sich bereitwillig nehmen und legte den Kopf etwas schief. Ein feines Piepsen ertönte aus seiner Kehle. „Kayan sollst du heißen!“, bestimmte der Junge und schaute seinen Freund mit Herzenswärme an. Seine Finger strichen zart über die glänzenden Kopffedern Kayans. Noch einmal das feine Rufen Kayans!
Für vier Wochen lang wurde die Voliere nun das Zuhause Kayans, der von Kira mit Futter versorgt und von Shayan unterhalten wurde.
Dann kam der große Tag der Freiheit: Shayan trug seinen wieder gesunden Freund in den Hof, streckte den Arm aus und motivierte Kayan zu fliegen. Kira rief Kayan aus der Luft. Das wirkte. Kayan breitete seine Schwingen weit aus, hob und senkte sie und stieß sich vom Arm des Jungen ab in die Höhe des Himmels. Shayan hörte den Freudenschrei seines Freundes. Obwohl der Junge diesen Augenblick für Kayan herbeigesehnt hatte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Kayan stürzte sich noch einmal aus der Höhe zum Jungen herab, umkreiste ihn und schwang sich wieder hoch, Kira in die hohen Berge folgend.