Aus dem Archiv: Über den Tellerrand ...
Ein scharfer Pfiff durchschnitt die vorweihnachtliche Stille. Das Echo gab den Befehl an den Hund dreimal zurück. Ako war auch sofort zur Stelle, nahm den Platz neben seinem Herrn Benno ein und beobachtete ihn voller Erwartung. Der Bauer setzte seine Schafwollmütze tief in die Stirn, holte den großen ...
... Haselnussstock aus der Ecke bei der Haustür hervor und stapfte mit seinen schweren Winterstiefeln über den Hof, an den verschneiten Äpfel- und Birnenbäumen vorbei den Hang hinauf. Der Hund, eine Steirische Rauhaarbracke, immer an seiner Seite.
Vorwitzige Schneeflocken setzten sich auf die Nase des Bauern und kitzelten ihn. Unwirsch fuhr er sich mit seinen großen kräftigen Fingern über sein Gesicht und beseitigte das lästige Nass. Seine Aufmerksamkeit galt nicht den Schneekristallen auf seinem Antlitz, auch nicht dem hohen Schnee auf dem Weg, sondern den beiden Jüngsten seiner Kinder, die oben am Hügel auf ihn warteten.
Benno war Bergbauer aus Leidenschaft, mittleren Alters und in der Bauernschaft gut angeschrieben. Er hatte seine Prinzipien, war bestimmt in seinem Tun und suchte keinen Streit mit seinen Nachbarn. Seine Pläne in der Viehwirtschaft gingen ihm auf und er konnte die Ideen der Hofführung dem Ältesten seiner Kinder übermitteln. Seine ganze Liebe galt seiner Familie, das Vieh mit eingeschlossen. Bis zu diesem verhängnisvollen Vorfall im vergangenen Sommer hatte er auch keine Angst vor der Zukunft.
Es war ein Nebel verhangener Julimorgen nahe dem Hof. Eine kleine Unachtsamkeit Millis, Bennos Frau, genügte. Der kleine Bergtraktor kam ins Rutschen, sie konnte ihn nicht mehr einfangen. Der einzige Ausweg lag in einem Sprung – ins Ungewisse. Sie musste auf einen Stein gefallen sein und blieb bewusstlos liegen.
Der Traktor rollte die feuchte Wiese hinab, geradewegs auf den Weiher zu. Im dichten Holz und Gestrüpp kam er endlich zum Stehen. Bis auf ein paar Schrammen blieb er unbeschädigt. Für Milli ging es nicht so gut aus, bei ihr diagnostizierte man einen Beckenbruch. Eine lange Zeit des Wartens auf Wiederherstellung begann für die Frau. Milli, die Quirlige in der Familie, musste sich in Geduld üben. Das war nicht gerade ihre Stärke. Ihre Kinder, Bennos beschützende Arme, die Tiere und die Berge fehlten ihr. Sie aß nur mehr wenig. Ihr Zustand wollte sich nicht bessern. Schwach fühlte sie sich und einsam. Wenn sie von ihrer Familie umringt war, flackerte ihr Lebensgeist wieder auf. Kaum war jedoch die Türe hinter den Lieben geschlossen, wanderte sie wieder in eine andere Welt hinüber. Sie nach Hause in Pflege zu nehmen war unmöglich, ihr Körper brauchte das Krankenhaus. Auch war der Bauerhof zu weit von der Klinik entfernt und daher für Milli zu gefährlich. Milli litt. Die Ärzte waren ratlos. Bis sich etwas zutrug, das alles änderte.
Eines Morgens schaute Veronika, eine junge Schwester nach Milli. Diese lag in ihrem Bett, den Kopfteil ein klein wenig erhöht. Ihre Augen hatten einen eigenartigen Glanz. Die Hände waren nach oben gestreckt als wollte sie etwas einfangen. Milli hatte Veronikas Eintreten wohl gehört. Ohne Veronika anzusehen, den Blick nach oben gerichtet, den Sonnenstrahlen entgegen, sprach sie: „Dieses Licht ist das Licht in meinen Bergen. Sie doch, die Meinen grüßen mich.“
Veronika verstand. Sie brachte Zeichenpapier und Stifte, richtete Milli in eine gute Sitzposition und schob ihr die Zeichenutensilien hin. Mit zitternden Fingern und zarten Farben ließ die Frau ihre Jüngste aus dem Fenster des Bauernhauses blicken. Dem Schulanfänger Franzi, ihrem Mittleren, gab sie die Schultüte in die Arme. Sie begutachtete lange ihre Werke. Veronika anlächelnd schloss sie die Augen und drückte die Zeichnungen fest an ihre Brust.
Die Heilung konnte nun endlich beginnen. Die Skizzen wurden immer mehr, immer besser. Milli entpuppte sich als ein Talent. Nicht nur ihre Heimat war im Krankenzimmer zu bewundern. Sie porträtierte das Pflegepersonal, die Ärzte und die Besucher. Die Zeichnungen hatten eine ganz besondere Ausstrahlungskraft. Milli gab jedem Gesicht eine andere Farbe. Anscheinend schenkte Milli jedem und jeder unbewusst seine und ihre Lieblingsfarbe. Weil in ihrem Zimmer für mehr Bilder kein Platz war, wurden sie draußen am Gang aufgehängt. Patienten aus anderen Abteilungen ließen sich von Milli zeichnen, kranken Kindern gab sie Tipps zum Malen. Dabei erzählte die Bauersfrau Geschichten von zu Hause und ließ für die Kinder Berge, Tiere und Blumen, Feen und Kobolde erstehen.
Benno staunte über seine Milli, schüttelte belustigt den Kopf über ihre wundersamen Bilder über seine Heimat. Wie gut sie die jungen Schafe wiedergeben konnte. Er musste eingestehen, dass seine Frau die Tiere besser im Gedächtnis hatte als er. Welche Liebe zu ihrem gemeinsamen Leben und Zuhause sich in diesen Zeichnungen ausdrückte! Zärtlich küsste er seine Milli. „Das mit dem Schaf möchte ich mitnehmen“, bat er seine Frau. Sie lächelte ihn an und meinte: „Wirst sehen, ich komm schon bald.“
Dieses Bald hatte sich dann doch noch hinausgezogen. Heilung braucht Zeit.
Nun war es bereits Advent geworden und die Kinder warteten sehnsüchtig auf das Christkind und ihre Mama. Sie waren schon längst am vereinbarten Treffpunkt, am Hügel angekommen. Hier im Schutze der großen Linde befand sich das Familienmarterl: „Jesus als guter Hirte“. Jesus sorgt für die Seinen – so der Sinn des Bildes. Das wussten die Kinder. So glaubten sie auch, dass ihre Wünsche an das Christkind, die sie auf kleine Zettel geschrieben und zum Bild gesteckt hatten, erfüllt würden. Voll Hoffnung blickten sie Jesus an und beteten ehrfürchtig ein Vaterunser.
Ein Japsen hinter ihnen unterbrach ihr Gebet. Ako stürmte auf die beiden zu und tanzte um sie herum. Die kleine Hanna umhalste ihren Spielgefährten und tollte mit ihm im Schnee. Franzi, der Schulbub, gebot dem Treiben Einhalt, schließlich war Ako für die Jagd ausgebildet und kein Spiel- oder Schoßhund. Hanna schüttelte sich den Schnee von ihrem Mantel und schritt auf ihren Vater zu. Die lustigen Augen Bennos machten sie neugierig. „Die Mama kommt morgen!“ platzte der Vater heraus. Zuerst ging ein Staunen durch die Kinder und dann die jähe Freude. Jetzt kugelten drei im Schnee: der Schulbub, das kleine Mädchen und der Hund. Das Lachen und Toben war ansteckend. Benno nahm die Kinder in seine starken Arme und ließ den Freudentränen freien Lauf.