Aus dem Archiv: Über den Tellerrand ...
Das nasse Gras duftete. Von weither hörte er das Flügelschlagen der Kraniche. Auf der linken Seite unterhalb des Abhangs sah er die Ostsee. Sie war saphirblau und auf den Kronen der Wellen glitzerte der Sonnenschein. In der Ferne zogen Segelboote dahin ...
... und Frachtschiffe kamen ihm wie Spielzeug vor.
Seine Gedanken kehrten auf die gegenüberliegende Insel zurück und fanden sich im kleinen, hellfreundlichen Häuschen wieder. Eine innere Unruhe befiel ihn und er stand auf, streckte sich und lief den Hügel hinunter, ein Stückchen den Strand entlang, um in einer kleinen Bucht das kalte Wasser zu spüren und weit hinaus zu schwimmen. Die Kühle tat ihm gut. Er fühlte sich gereinigt, ließ sich auf einen schon von der Morgensonne aufgewärmten Stein nieder und schlief sofort ein.
Die kalte Hand auf seiner Schulter schreckte ihn auf, sein ganzer Körper zuckte und er sah mit aufgerissenen Augen auf sein Gegenüber. „Wann fährst du?“ Sein Blick wich nicht von ihren Augen. „Wann fährst du?“ fragte sie nochmals, zupfte dabei ein paar Grashalme und zerrieb sie zwischen ihren Fingern. Ein süßherber Duft stieg in seine Nase und führte ihn wieder zurück in das Haus von drüben.
Blau wie das Meer leuchtete es aus der Heide heraus. Es war umgeben von einem kleinen Gärtlein, in dem es überquoll von bunten Sommerblumen, Gemüse und Beerenobst. Das Gartentor wurde durch rote, rosa und gelb blühende Stockmalven umrahmt. Noch nie vorher hatte er ein schöneres Blumenarrangement gesehen als hier. Vorsichtig bog er einige der langen Stiele zur Seite, um an die Klingel zu kommen und läutete. Da neben der Eingangstür ein Fenster offen stand, hörte er den feinen Klang der Glocke und war zum zweiten Mal erstaunt. „Kommen Sie nur herein, ich bin in der Küche!“ rief ihm eine freundliche, klare Stimme entgegen. Hastig griff er in seine Hosentasche, nahm seine Plastiktüte heraus und packte umständlich seinen Stein aus. Die Tüte ließ er wieder in seine Tasche verschwinden und öffnete das Gartentor. Knarrend sprang dies auf und machte ihm den Weg zum Haus frei. Der Kies unter seinen Füßen knirschte. Beim Hauseingang, in der prallen Sonne saßen zwei schwarze große Katzen, die ihn missbilligend anblickten. Als er die Schwelle übertreten wollte, fauchten sie und verschwanden in der Dunkelheit des Hauses.
„Hier bin ich, hier!“ hörte er nun wieder die Stimme von vorhin. Am Ende des engen Ganges tat sich eine große Küche auf. Das Licht kam von den beiden Fenstern her, ihm gegenüber. Seine Augen wanderten vorbei an den Fenstern, der Küchenwand entlang, die mit kleinen Bildern übersät war. Er musste schon etwas näher treten, um das Dargestellte zu erkennen. Die Bilder zeigten alle dieselbe Stelle eines Stückchens vom Sandstrand. Zwei weiße, blutleere, dünne, knöcherne Beine querten den unteren Rand der Studien. Genau in der Mitte der kleinen Aquarelle klebte ein Bernstein, jeder kunstvoller verarbeitet als der vorherige. Wie Trophäen hängen sie an der Wand, ging es ihm durch den Kopf. Plötzlich fror er, obwohl der Raum der Sonne zugewandt und der Ofen in der Ecke Wärme abgab. Den Stein in seiner Hand ließ er vorsichtig wieder in die Hosentasche zurück gleiten. Jetzt wandte er sich der freundlichen Stimme zu, die ihn anspornte die Köstlichkeit im Topf zu kosten. Als er den übergroßen Kochlöffel gerade an die Lippen setzen wollte, sprang eine der schwarzen Katzen pfauchend an ihm hoch und krallte sich an seinem Hosenbein fest. Der Löffel fiel zu Boden und zugleich gab es Feuer an dieser Stelle. Er schüttelte die Katze mit so einer Wucht ab, dass sie durch das Zimmer flog und in der Ecke gegenüber liegen blieb. Eine ihm unbekannte Stimme drang vom Fenster an sein Ohr, drängend, militärisch fast: „Geh in Deckung!“ Er sprang zur Tür. Zugleich hörte er das Aufklatschen des großen Kupferkessels auf dem Fußboden. Es gab eine Stichflamme, die aber im Nu wieder erloschen war. Das nächste, was er sah, war eine zarte Person, die Gestalt mit der hellen, freundlichen Stimme, die jetzt wie eine Furie um sich schlug, in Handschellen an ihn vorbei zog. „Wir waren ihr schon längere Zeit auf der Spur. Jetzt hat es endlich geklappt. Wie viele Morde auf ihr lasten ist noch unsicher, doch neun gehen bereits nachweislich auf ihr Konto. Herzlichen Dank für ihre Mithilfe!“ Mit Siegesgeheul verschwand das Polizeiauto hinter dem Sanddornstrauch. „Wann fährst du?“ fragte sie nochmals mit ihrer tiefen, warmen Stimme. Er schüttelte sich kurz, rieb sich sehr schnell seine Handflächen aneinander und legte sie dann auf seine Augen. Dann sah er sie zögernd an. „Morgen. Kommst du mit?“ „Ja“ Es klang sicher und bestimmt. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht. Er nahm ihre Hände in die seinen, half ihr auf und ging mit ihr über die Heide, neben leuchtenden Ginsterbüschen, Skabiosen und duftenden Kräutern zum Leuchtturm hinauf.