Aus dem Archiv: Über den Tellerrand ...
„Es schneit, es schneit!“ Wie toll hüpft die kleine Charlotte vom Küchensofa beim Fenster, klatscht vergnügt in ihre kleinen Händchen und tanzt zur Tür, die in den Garten führt. Ihre Engelsflügel wackeln bei jeder Bewegung bedenklich, die Goldlöckchen fallen ihr wild ...
... ins Gesicht, der Stern im Haar sitzt schon ganz schief und das weiße Tüllröckchen rutscht allmählich immer weiter runter. Das sonst so ruhige Kind im Engelskostüm ist wie ausgewechselt und steckt mich mit seiner Freude über den Schnee an.
Ich stelle den Lebkuchenteig zum Rasten in die Speisekammer, nehme meine Schürze ab und hänge sie an den Haken neben der Tür. „Komm mein Schatz, wir wollen Alma und Gustl mit einem Besuch überraschen!“ „Ui fein! Drahdiwaberl steh auf, die Alma wartet auf dich!“ Wie ein Wirbelwind saust Charlotte zur Eckbank und versucht den alten Dackel aus der Hundeecke hervor zu locken. Weil die Engelsflügel immer wieder an der Tischkante anstoßen und die Kleine am Näherkommen hindern, reißt sie den lästigen Umhang los und kriecht zu ihrem Dackel. Mit süßen Worten und gleichzeitigen Ermahnungen zerrt sie Drahdiwaberl unter der Bank heraus, gibt ihm noch einen Klaps und schubst ihn ins Ankleidezimmer, wo sie ihr Kostüm gegen einen warmen Schneeanzug tauscht. Mit halbgeöffnetem Anorak, dickem, viel zu langem Schal, einer wohlig weichen Mütze auf dem Kopf und angeleintem Hund steht das Mädchen vor mir. „Na, dann raus mit euch!“
Beide stürmen auf die verschneite Wiese. Charlotte versucht mich mit ihren Schneebällen zu treffen, die jedoch das Dackeltier abfängt und aufgeregt bellt. Allmählich beruhigen sich die beiden wieder und marschieren brav neben mir her. Bald haben wir das wunderschöne alte Mühlviertler Bauernhaus meiner Freunde hinter uns gelassen und stapfen nun im knöcheltiefen Schnee bergauf dem Anwesen von Alma und Gustl entgegen.
Birken, Föhren und Tannen, eingehüllt in weiße Schneekleider, sehen bezaubernd aus. Die Niederschläge haben nun aufgehört und lauter kleine Schneekristalle glitzern in der Wintersonne, die zögernd aus den Wolken hervor tritt. Ganz still ist es. Die kleine Charlotte, etwas müde geworden, hat sich inzwischen auf den Schlitten gesetzt und lässt sich von mir ziehen. Jetzt ist sie eingenickt. Das Gesichtchen, rot von der frischen Luft, gleicht einem Rokokoengel. Neben uns plätschert träge das kalte Wasser im Bächlein. Sein Ufer ist gespickt mit feinen, fast durchsichtigen Eiszapfen. „Schau, Tante Emily, Frau Holle hat Gold ins Wasser gestreut!“ wieder ganz bei Kräften erzählt mir die Kleine das Märchen von der Frau Holle in einer ganz neuen Version. Ich schmunzle über die kindliche Sichtweise und freue mich über die Fabulierfähigkeit des Mädchens. Beim Happyend der Geschichte haben wir den höchsten Punkt der Gegend erreicht, verschnaufen ein wenig und sausen dann mit dem Schlitten den Berg hinunter, wo wir dicht vor dem Gartentor von Alma und Gustl zum Stehen kommen. Japsend und an uns hoch springend kann es Drahdiwaberl kaum erwarten, dass uns unsere Freunde in ihr Haus einlassen. Es ist ein kleines, aber bemerkenswertes Haus, das die beiden Alten über viele Jahre in ihrer Freizeit mit Behutsamkeit renoviert, neu gestaltet und mit viel Geschmack und Individualität eingerichtet haben. Seit ihrer Pensionierung haben sie ihren Lebensmittelpunkt in diesem Haus und mit ihnen ist auch ein Freudenschimmer in diese Gegend gezogen. Ihr großer Garten ist auch im Winter eine Augenweide und löst bei Vielen Erstaunen aus. Die Anordnung der Bäume und Sträucher scheint so, als hätte sie eine geheimnisvolle Geschichte preiszugeben.
Charlotte und ich brauchen nicht mehr an der Tür zu klopfen, denn Drahdiwaberl hat uns schon von weitem angekündigt. In der warmen Stube beim Kachelofen dürfen wir uns dann an den Keksen und der warmen Milch laben. Das Zwinkern der Augen Charlottes richtig verstehend, beginnt dann Alma vor uns eine Mythenwelt auszubreiten, die uns tief in die Mühlviertler Wälder und in unsere Seelen führt. Eine wundersame Reise der Erzählkunst beginnt.