Zur „höheren Gewalt“ in (internationalen) Lieferverträgen – Ein Juristen Jour Fixe mit Blick über die Grenze
Vertragsklauseln zur „höheren Gewalt“ oder auch genannt „Force Majeure“ führten bis zum Ausbruch der COVID-19-Pandemie in den meisten Verträgen im mitteleuropäischen Kontext ein Schattendasein. Denn von Ereignissen höherer Gewalt, wie etwa Krieg, Seuchen und Naturkatastrophen, ist Österreich (jedenfalls in den letzten Jahrzehnten) verschont geblieben. In der Corona-Krise hat sich jedoch gezeigt, dass diese Vertragsklauseln durchaus Praxisrelevanz haben können. Aus diesem Grund haben wir dieses Thema gemeinsam mit Univ.-Prof. Mag. Dr. Simon Laimer, LLM von der JKU Linz (Institut für Zivilrecht) sowohl aus Sicht der Rechtswissenschaft als auch der Rechtspraxis im Rahmen unseres monatlichen Juristen Jour Fixe untersucht.
Der Begriff der „höheren Gewalt“ ist im österreichischen Recht nicht allgemein definiert. Die Rechtsprechung versteht darunter jedoch ein Ereignis, das 1.) unvorhersehbar, 2.) unabwendbar und 3.) von keiner der Vertragsparteien zu vertreten ist.
Typischer Weise wird in Vertragsklauseln zur höheren Gewalt ein bestimmter Verfahrensablauf normiert, den die Vertragsparteien einzuhalten haben, wie etwa Verständigungspflichten und gewisse Zusammenwirkungspflichten. Auf der Rechtsfolgenseite ist üblicherweise eine Vertragsbeendigung, ein Rücktrittsrecht (für eine oder für beide Seiten) oder jedenfalls eine Fristverlängerung vorgesehen.
Nachdem es bei höherer Gewalt am Verschulden mangelt, besteht in diesen Fällen nach der österreichischen Konzeption grundsätzlich kein Schadenersatzanspruch. Das österreichische Recht hat also in dieser Hinsicht bereits vorgesorgt, anders etwa als das italienische, französische oder anglo-amerikanische Recht. In diesen Rechtsordnungen sind daher „Force Majeure“-Klauseln umso wichtiger.
Offen bleiben aber auch nach österreichischem Recht zahlreiche Fragen, begonnen mit der Definition der höheren Gewalt. Ist der Ausbruch von COVID-19 per se als höhere Gewalt anzusehen? Handelt es sich nur dann um höhere Gewalt, wenn es zu einer Schließung (Betriebsschließung, Grenzschließung, etc.) aufgrund von COVID-19 kommt? Liegt auch dann höhere Gewalt vor, wenn ein Unternehmen unzureichende Schutzmaßnahmen gesetzt hat und deshalb Quarantäne verhängt wird? Hier wird man wohl auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen haben. Die pauschale Aussage, dass aufgrund von COVID-19 jedenfalls von höherer Gewalt auszugehen ist, ist jedoch nicht vertretbar.
Fraglich ist außerdem, ob etwa Lieferschwierigkeiten oder sonstige Leistungsstörungen aufgrund von COVID-19 in Zeiten wie diesen noch „unvorhersehbar“ sind oder ob man in neu abzuschließenden Verträgen dahingehend vorsorgen sollte, dass es aufgrund von COVID-19 zu etwaigen Verzögerungen kommen kann. Auch hier ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig: Solange die Corona-Krise noch aufrecht ist und man etwa auf Zulieferer aus dem Ausland angewiesen ist, ist eine solche vertragliche Vorsorge empfehlenswert. Eine unsubstantiierte „Corona-Klausel“ in jeden zukünftigen Vertrag aufzunehmen, ist jedoch nicht sinnvoll. Vielmehr kann sogar ein Nachteil damit verbunden sein, denn eine zu eng formulierte Bestimmung wirft immer die Frage auf, ob ein etwas anders gelagerter Fall ebenfalls umfasst ist oder nicht.
Auch das Thema der Ersatzbeschaffung ist bei Lieferverträgen zu berücksichtigen und die damit verbundene Frage, ob bei Lieferverzögerungen (z.B. wegen Grenzschließung) der Abnehmer ein Recht hat, die bestellte Ware bei einem anderen Importeur zu beschaffen oder der Lieferant die Pflicht, die Ware bei einem anderen Zulieferer zu besorgen. Damit verbunden ist natürlich, wer die damit einhergehenden Mehrkosten zu tragen hat. Auch die Versicherbarkeit des Risikos kann bei der Vertragsgestaltung mitberücksichtigt werden (Stichwort Ausfallversicherung).
Im grenzüberschreitenden Kontext ist als Ausgangspunkt außerdem festzulegen, welches materielle Recht auf das Vertragsverhältnis anwendbar ist. In Betracht kommt hier neben den nationalen Rechtsordnungen auch das UN-Kaufrecht als Teil des Einheitsprivatrechts. Grundsätzlich ist auch eine Rechtswahl zulässig, wobei die jeweiligen Vor- und Nachteile der einen oder anderen Lösung sorgfältig abzuwägen sind.
Fazit des Juristen Jour Fixe ist jedenfalls, dass der Diskurs zwischen Wissenschaft und Praxis unverzichtbar und für beide Seiten bereichernd ist. Wir bedanken uns daher bei Univ.-Prof. Mag. Dr. Simon Laimer, LLM für den hervorragenden Vortrag und den wissenschaftlichen Input (auch aus Sicht der Rechtsvergleichung und des Internationalen Rechts).