Fly me to the moon - Ein italienischer Sommernachtstraum

„Amato, Amato, so warte doch!“ Fabrizio huschte zwischen den hohen Pinien hin und her und versuchte seinen Freund Amato endlich einzuholen. Dieser lief jedoch ohne auf die eindringliche Stimme Fabrizios zu hören immer weiter, kreuz und quer mit der Schnelligkeit eines flüchtenden Rehs.

Über den Tellerrand

Den jungen Mann mit einem Reh zu vergleichen ist eigentlich gut ausgedrückt, denke ich. Sein Körper ist grazil, sehnig und muskulös, seine Beine lang und schnell, seine Augen so braun und schön wie das Tier des Waldes. Seine pechschwarzen Haare fallen ihm in einer leichten Welle in den Nacken. Na, und die besagte Scheu des Rehs? Wie passt sie für Amato? „Exakt“, würde Fabrizio sagen. Er muss es ja schließlich wissen, er ist sein Freund seit Kindertagen. So sollten wir wohl die Schüchternheit und Amato in einer Einheit denken. Doch kehren wir wieder zum Anfangsbild der Geschichte zurück.

„Amato, Amato“, schrie Frabizio immer und immer wieder. Seine Stimme überschlug sich schon, er schluckte, blieb stehen, keuchte, rannte wieder los. Dann plötzlich eröffnete sich für Fabrizio eine wahrhaft bühnenreife Szene: Vor ihm stand die mächtige Steineiche in ihrem dunkelgrünen Gewand, das sie nur im Sommer trug. Daneben, ein Stück versetzt, lag ein riesiger, runder Brunnen auf einer großen Rasenfläche. Fontänen von Wasser plätscherten laut aus dem großen Marmorgefäß und übertönten beinahe das Schreien eines Pfaus, der im Schatten des alten Baumes Schutz vor der Sommersonne suchte.

Doch das, was Fabrizio noch zusätzlich sah, machte erst das Geschaute zum Bühnenbild. Amato stand auf dem Brunnenrand. Seine Arme, mal seitlich, mal nach oben gestreckt, die Beine leichtfüßig, eben wie ein Reh, einen Fuß nach dem anderen sacht auf den Stein aufsetzend, fast schwebend, tänzelte er mit der Sicherheit eines Akrobaten um die sprühende Fontäne. Dabei sang er mit voller, kräftiger Stimme:

„Fly me to the moon
and let me play among the stars
Let me see what spring is like
On a Jupiter and Mars
In other words, hold my hand
In other words, darling kiss me

Fill my life with songs
And let me sing for ever more
You are all I long for
All I worship and adore
In other words, please be true
In other words, I love you“

„Amato, Amato! Was soll das?“ schallend lachend rannte Fabrizio auf seinen Freund zu. Amato zuckte kurz, verlor das Gleichgewicht, versuchte noch die Bewegung durch eine Waage auszugleichen. Diese fiel jedoch luftiger aus, als er sich das gewünscht hätte. Und so purzelte er in das kalte Wasser. Prustend kletterte er aus dem Brunnen, schüttelte sich die Nässe aus den Haaren und ließ seinen Freund ohne Erklärung stehen und lief davon.

CUT

War das alles? Nein, meine Neugierigen. Dann wäre es ja keine Emily Grey Geschichte.

Zwei Wochen später hetzte Fabrizio zum Bahnhof Roma Termini. Am Bahnsteig nahm er zwei Stufen auf einmal, rempelte ein paar Passanten an, entschuldigte sich flüchtig und lief weiter.

Fabrizio warum hast du solche Eile? Ach so, die Tante hatte sich angesagt und Fabrizio verplapperte sich wieder einmal mit seiner hübschen Nachbarin. Aber jetzt, meine lieben Leser und Leserinnen, aufgepasst!

Kaum hatte der junge Römer das richtige Gleis erreicht, fuhr auch schon der Zug aus München ein. Keuchend hielt er Ausschau nach seiner alten flotten Tante und erstarrte plötzlich. Zirka zwanzig Meter vor ihm erblickte er Amato, einen kleinen Blumenstrauß in der Hand haltend und die Waggons akribisch durchsuchend fixierend. Fabrizio, der seinerseits nach seiner Tante suchte, wurde anscheinend von Amato nicht gesehen. Amatos Gesicht veränderte sich auf einmal mit einem einzigen Augenschlag. Sein Mund öffnete sich zu einem wunderschönen Lächeln, seine Arme hoben sich zu einem schnellen Winken. Offenbar fand er, was er gesucht hatte. Er fing zu laufen an, aber nur so weit, dass Fabrizio ihn noch im Auge behalten konnte. Amato drängte nicht nach der Waggontür, nein, ein paar Meter davon weg blieb er stehen und beobachtete die aussteigenden Reisenden.

Fabrizio fiel eine junge Frau auf, die mit Grazie von der Zugtreppe auf den Bahnsteig stieg. Dabei umspielte der weiche Stoff des Kleides ihre schönen Beine. Dann sah er ihr Gesicht: ein zarter Teint, leuchtende Augen, zwei kleine Lachgrübchen in den Wangen, schmale, himbeerrote Lippen, helle lange Haare. Während sie ihren Kopf suchend nach rechts und nach links drehte, blies der sanfte Sommerwind in ihre Haare. Dann huschte ein Lächeln auf ihre Lippen und gleichzeitig ging sie schnellen Schrittes auf Amato zu. Er warf ihr den Rosenstrauß zu, gekonnt fing sie ihn auf und schon lagen sich die beiden in den Armen.

Fabrizio zuckte zusammen. Jemand klopfte ihm mit spitzen Fingern auf die Schulter. „Na, Fabrizio wie geht´s?“, erschrocken drehte er sich um. „Ah, Tante Amalia, wo kommst du jetzt her? Ich habe doch so genau nach dir Ausschau gehalten.“ „Ich denke du hast nach jemand anderen gesehen, mein Lieber.“ Verschmitzt zwinkerte Amalia Fabrizio zu und sagte lachend: „Sieh doch, welches Bild!“

Na, welches Bild wird sie wohl meinen? Wahrlich meine Leser und Leserinnen, so eine Szene könnte nicht einmal Rosamunde Pilcher in ihren Geschichten hervorzaubern:

Die anmutige junge Frau löste sich sanft, aber bestimmt aus den Armen Amatos, öffnete den Koffer neben ihr und nahm ihre Geige in die Hände. Voll Zärtlichkeit schaute sie Amato an und begann zu spielen: „Fly me to the moon“. Amato nahm den Blumenstrauß wieder zu sich, sprang auf die oberste Sprosse der Bank, die gerade neben ihm stand, breitete seine Arme aus, tänzelte auf dem schmalen Rand und sang das Lied ihrer beider Liebe:

„Fly me to the moon
and let me play among the stars
Let me see what spring is like
On a Jupiter and Mars
In other words, hold my hand
In other words, darling kiss me

Fill my life with songs
And let me sing for ever more
You are all I long for
All I worship and adore
In other words, please be true
In other words, I love you“

Fabrizio sah seine Tante an, erstaunt, verblüfft: „Mein verrückter Freund!“

Ein kitschiges Ende? Liebe, meint Emily Grey, geht manchmal seltsame Wege.

Und Tante Amalia, sich ihrem Neffen zuwendend, sagte sehr weise: „Liebe ist, was sie ist – Liebe.“

 

 

 

Von: Emily Grey
Veröffentlicht: 15.07.2021