Eine kleine Geschichte zum Valentinstag
Es war einmal ein Rosenstock, der mitten im Garten stand. Vor einigen Jahren wurde er von einem berühmten Gärtner, der ihn in einem Spezialitätenrosarium entdeckt hatte, gesetzt. Es sollte eine ganz besonders seltene Rose sein, meinte der Verkäufer und schwärmte von ihren Vorzügen. Da hatte der Gärtner schon längst an den schön zart rosa Blüten und ihrem herrlichen Duft Gefallen gefunden und brachte sie in seinen Garten.
Am bedeutendsten Platz des Blumenparadieses setzte er seine neue Errungenschaft. Er hegte und pflegte die Pflanze, doch sie wollte nicht wirklich so blühen wie er sich das gedacht hatte. Er gab ihr alles, was er in den Büchern als Ratschläge vorfand. Er befragte verschiedenste Rosenspezialisten, doch der Blütenflor wurde nicht mehr. Die Pflanze bemühte sich, das gab der Gärtner zu. Doch so wie er sich das im Traum erdacht hatte, war es nie und nimmer. Dem Gärtner wurde die verschwenderische Pflege für die besondere Rose, die keine besondere war, bald zu aufwendig. Er ließ ihr nur mehr das Notwendigste zukommen und wandte sich den anderen Kostbarkeiten in seinem Garten zu.
Da geschah es, dass er eines Tages von einem Freund eine Schneerose von außergewöhnlichem Wuchs und besonders beeindruckenden Blüten geschenkt bekam. Er setzte sie sofort in gute Erde an einen Platz, den er für sie als passend ansah, unter einen Haselstrauch. Geschützt unter dem Gehölz sah die Schneerose genau auf die Rose, die mitten im Garten stand.
Die Schneerose blühte überreichlich und verbreitete zu aller Freude ihren herrlichen Duft in die Gartenluft und lockte die ersten Bienen und Hummeln an. Viele Tage erfreute sie den Gärtner bis sie ihre Blüten einzog und sich auf ihren Wuchs konzentrierte.
Der Frühsommer war in den Garten eingezogen und Tulpen, Anemonen, Blauregen, Pfingstrosen, Ranunkeln, Alpenveilchen, Zierlauch, Calla und Iris beschritten einen regelrechten Wettkampf im Aufblühen.
Und siehe da, da geschah ein Wunder: Die Rose, mitten im Garten, die im Vorfrühling zahlreiche Knospen angesetzt hatte, war plötzlich von hunderten Blüten voll. Ihre Blätter hatten ein sattes Grün, das mit den zartrosa Blüten wunderbar harmonisierte. Und der Duft der Rose war überwältigend. Er legte sich über den gesamten Garten und stieg mit der Wärme der Frühlingssonne durch die offenen Fenster hinein in die Räume des Hauses. Der Gärtner, der gerade einen Blumenstrauß für die Vase arrangierte, roch den verführerischen Duft und erkannte ihn. Er lehnte sich aus dem Fenster und lächelte zur Rose hinunter. Endlich, so dachte er, war sie aufgewacht und kann ihre Liebe verströmen.
Und so wiederholte sich das Blühwunder nun jedes Jahr. Noch im Winter gab die Schneerose ihr Bestes. Sie ließ ihre Blüten so lange wunderschön sein bis die zarten rosafarbenen Blüten der Rose ihren Duft verströmten. Die Rose wurde mit den Jahren immer üppiger und der Anziehungspunkt des ganzen Gartens. Nun war sie die wahre Mitte im Blumenparadies.
Da geschah es, dass der Garten eines Tages einen anderen Besitzer bekam und der Rosenstrauch wegen neuer Planung entfernt wurde. Die Schneerose unter dem Haselstrauch hatte man vorerst vergessen, weil sie doch im Sommer etwas unscheinbar war. Doch im nächsten Winter bei den ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen wollten ihre Blüten nicht mehr ihre Köpfchen aus dem Laub erheben. Keine einzige zeigte sich mehr. Als man im Herbst auch unterm Haselstrauch anfing zu graben um für andere Pflanzen Platz zu machen, fand der junge Gärtner des neuen Besitzers etwas Eigenartiges: eine verkümmerte Schneerose, die an ihren Wurzeln die Wurzel einer Rose umschlungen hielt.