Die aktuellen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) zu den COVID-19-Maßnahmen
Am 14.07.2020 hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) drei ganz wesentliche Entscheidungen zu den COVID-19-Maßnahmen getroffen. Alle drei Entscheidungen wurden am 22.07.2020 auf der Webseite des VfGH veröffentlicht. Der vorliegende Beitrag soll einen Überblick über den Inhalt und die Auswirkungen dieser Entscheidungen geben sowie die in Betracht kommenden Handlungsalternativen abwägen.
VfGH 14.07.2020, G 202/2020 (betreffend Entschädigungsansprüche):
In der Entscheidung VfGH 14.07.2020, G 202/2020 hat der VfGH (zusammengefasst) den Antrag auf Aufhebung des § 4 Abs 2 COVID-19-Maßnahmengesetz abgewiesen. Diese Bestimmung besagt, dass bei einer Verordnung nach § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz die Bestimmungen des Epidemiegesetzes betreffend die Schließung von Betriebsstätten nicht zur Anwendung gelangen.
Diese Bestimmung stellt laut VfGH zwar eine gravierende Eigentumsbeschränkung dar, sei aber von den betroffenen Unternehmen zu dulden. Nach der vom VfGH vertretenen Rechtsansicht sind Ansprüche nach dem Epidemiegesetz bei einer faktischen Betriebsschließung aufgrund einer Verordnung nach § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz ausgeschlossen.
Der VfGH hielt § 4 Abs 2 COVID-19-Maßnahmengesetz deshalb für verfassungskonform, weil der Gesetzgeber keine isolierte Maßnahme, sondern ein gesamtes „Rettungspaket“ erlassen habe, wie etwa Kurzarbeitsbeihilfe, Fixkostenzuschuss und Härtefallfonds.
Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Hinweis des VfGH auf die Fiskalgeltung der Grundrechte. Denn die vom Gesetzgeber vorgesehenen Leistungen werden zwar zum Teil im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung erbracht, weshalb z.B. kein Bescheid erlassen wird, der überprüft werden könnte. Die Förderungswerber sind jedoch nicht völlig rechtlos gestellt. Vielmehr ergibt sich aus der Fiskalgeltung der Grundrechte, dass Betroffene einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch haben, dass ihnen solche Förderungen in gleichheitskonformer Weise und nach sachlichen Kriterien gewährt werden (Rz 17).
VfGH 14.07.2020, V 411/2020 (betreffend Differenzierung 400 m2):
In der Entscheidung VfGH 14.07.2020, V 411/2020 hat der VfGH (im Wesentlichen) die Differenzierung zwischen jenen Betriebsstätten, die kleiner und jenen die größer als 400 m2 sind, als für gesetzwidrig befunden. Ebenso wurde als für gesetzwidrig die Wortfolge erklärt, dass Größenveränderungen im Nachhinein unbeachtlich seien. Somit wurde die Gesetzwidrigkeit von wesentlichen Teilen des § 2 Abs 4 der Verordnung Nr. 96/2020 betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 festgestellt.
Diese Entscheidung betrifft den Zeitraum 14.04.2020 bis 30.04.2020, denn die oben genannte Größendifferenzierung (< / > 400 m2) war nur in diesem Zeitraum in Kraft.
Der VfGH hat diese Bestimmung deshalb für gesetzwidrig erklärt, weil der Verordnungsgeber (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) die Umstände nicht ausreichend ermittelt und aktenmäßig dokumentiert habe. Wortwörtlich führte der VfGH aus, dass sich im betreffenden Verwaltungsakt „keine weiteren, im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage des § 1 COVID-19-Maßnahmengesetz relevanten Ausführungen oder Unterlagen“ befinden (Rz 82).
Zudem führte der VfGH aus, dass die sachliche Rechtfertigung dafür fehle, zwischen Geschäften mit weniger oder mehr als 400 m2 zu differenzieren. Auch die Ausnahme für Bau- und Gartenmärkte sei nicht sachlich gerechtfertigt gewesen.
VfGH 14.07.2020, V 363/2020 (betreffend allgemeines Betretungsverbot):
In der Entscheidung VfGH 14.07.2020, V 363/2020 hat der VfGH (zusammengefasst) das allgemeine Betretungsverbot der Verordnung Nr. 98/2020 des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als gesetzwidrig festgestellt.
Dieses allgemeine Betretungsverbot sah im Wesentlichen eine allgemeine Ausgangsbeschränkung vor, wobei nur unter bestimmten Ausnahmen das Betreten öffentlicher Orte zulässig war.
Der VfGH begründete die Gesetzwidrigkeit der Verordnung damit, dass das COVID-19-Maßnahmengesetz keine Grundlage für ein allgemeines Betretungsverbot beinhalte. Vielmehr wäre es lediglich zulässig gewesen, das Betreten bestimmter, eingeschränkter Orte zu untersagen.
An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass derzeit ein Begutachtungsverfahren zur Änderung des COVID-19-Maßnahmengesetzes anhängig ist, wonach auch das „Betreten öffentlicher Orte in ihrer Gesamtheit“ durch Verordnung geregelt werden können soll (vgl. 41/ME XXVII. GP – Ministerialentwurf).
Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten bestehen?
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es immer einer Beurteilung im Einzelfall bedarf, welche Maßnahmen in concreto sinnvoll und zielführend erscheinen. Diesbezüglich stehen wir Ihnen gerne für nähere Auskünfte, auch unter der E-Mail-Adresse corona-help@iura.at, zur Verfügung.
Ganz konkret stellt sich die Frage, wie sich die oben dargestellten VfGH-Entscheidungen auf bereits anhängige Verfahren vor den Bezirkshauptmannschaften bzw. Magistraten auswirken, in denen eine Entschädigung nach dem Epidemiegesetz beantragt wurde. Eine Handlungsmöglichkeit wäre, das Verfahren trotzdem fortzusetzen, wenn die Risikoabwägung dafürspricht.
Vor allem hinsichtlich jener Betriebsstätten, die auch im Zeitraum 14.04.2020 bis 30.04.2020 von einer faktischen Schließung betroffen waren, kommen Amtshaftungsansprüche in Betracht. Schließlich war die Verordnung in diesem Punkt gesetzwidrig und die Schließung daher rechtswidrig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von der Judikatur eine Beweislastumkehr dahingehend entwickelt wurde, dass die Beweislast für mangelndes Verschulden den beklagten Rechtsträger trifft (vgl. OGH 1 Ob 225/07f).
Als weitere Möglichkeit kommt eine Antragstellung für den Zeitraum ab 01.05.2020 nach § 32 Epidemiegesetz in Betracht. Denn die COVID-19-Lockerungsverordnung stützt sich nicht nur auf § 1, sondern auch auf § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz. Hinsichtlich einer Verordnung nach § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz ist jedoch ein Entschädigungsanspruch – bereits vom Wortlaut des § 4 Abs 2 COVID-19-Maßnahmengesetz – nicht ausgeschlossen. Dies betrifft vor allem die Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe.
In diesem Zusammenhang ist besonders zu erwähnen, dass mittlerweile die sogenannte „Berechnungs-Verordnung“ erlassen wurde, also jene Verordnung, wie Entschädigungsansprüche nach dem Epidemiegesetz zu berechnen sind (vgl. BGBl II Nr. 329/2020).
Zudem wurde die Frist zur Erhebung von Ansprüchen auf Entschädigung gemäß § 49 Abs 1 Epidemiegesetz verlängert.